Die Opposition wirft der Bundesregierung nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan Versagen vor. Die Grünen fordern Aufklärung, warum die Evakuierungmission so spät anlief. Aus FDP und Linkspartei kommen Rücktrittsforderungen.Berlin – Angesichts der spät angelaufenen Rettung Deutscher sowie einheimischer Ortskräfte aus Afghanistan hat Grünen-Chef Robert Habeck eine lückenlose Aufklärung gemachter Fehler verlangt. „Die Aussagen der Bundesregierung, niemand habe vor der Situation gewarnt, wecken ernsthafte Zweifel“, sagte Habeck der „Rheinischen Post“. Die Verantwortung trügen neben Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auch Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) und die Ministerien für Auswärtiges und Verteidigung.
Auf die Machtübernahme der Taliban „hätte man sich vorbereiten können und müssen“, selbst wenn die Geschwindigkeit möglicherweise nicht absehbar gewesen sei, kritisierte der Grünen-Vorsitzende. Er verwies darauf, dass die Grünen bereits im Juni im Bundestag auf eine einfachere Aufnahme afghanischer Ortskräfte gedrängt hatten, was damals von Union und SPD zurückgewiesen wurde.
„Das größte außenpolitische Desaster“
Der frühere Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir griff Außenminister Heiko Maas (SPD) scharf an. Dieser habe „das größte außenpolitische Desaster seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland“ zu verantworten, sagte Özdemir im Deutschlandfunk. Deutschland lasse in Afghanistan jetzt Menschen im Stich, die als Ortskräfte für die Bundeswehr ihr Leben riskiert hätten. Zudem stelle sich die Frage, was eigentlich der Bundesnachrichtendienst (BND) in den vergangenen Wochen und Monaten gemacht habe.
Maas und Kanzlerin Merkel hatten kürzlich eine Fehleinschätzung der Lage in Afghanistan eingeräumt. Man habe nicht vorhergesehen, dass die afghanischen Streitkräfte nicht bereit gewesen seien, sich den Taliban entgegenzustellen. Maas muss sich heute in einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages den Fragen der Abgeordneten stellen. Vorab sprach der Ausschussvorsitzende Norbert Röttgen (CDU) von einer „politischen Katastrophe“.
Rücktrittsforderungen aus Linkspartei und FDP
Den Rücktritt gleich der gesamten Bundesregierung forderte der Linken-Politiker Gregor Gysi. „Das Ganze ist desaströs“, sagte er dem MDR. Man hätte bereits im April „das Botschaftspersonal und auch die Helfer der Bundeswehr zurückholen können“, warf auch Gysi der Regierung schwere Versäumnisse vor.
Rücktritte zumindest der verantwortlichen Ministerinnen und Minister verlangte auch FDP-Vize Wolfgang Kubicki. „Sowohl die Bundeskanzlerin, als auch Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer und vor allem Heiko Maas haben das größte außenpolitische Desaster seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland zu verantworten. Nie wurden wir schlechter regiert“, sagte Kubicki der „Rheinischen Post“. Rücktritte wären „ein wichtiger symbolischer Akt, um zu demonstrieren, dass man in höchsten politischen Ämtern noch Verantwortung übernimmt“.
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) lehnt einen Rücktritt angesichts der Ereignisse in Afghanistan ab. „Ich scheue mich vor keiner politischen Diskussion, schon gar nicht im Wahljahr. In diesem Moment steht aber die Rettung der Menschen im Vordergrund“, sagte sie der „Rheinischen Post“.
Kaum Hoffnung für Ortskräfte
Die Bundesregierung hatte mit einer Rettungsaktion für noch in Kabul befindliche Deutsche und für afghanische Ortskräfte der Bundeswehr sowie andere durch die Machtübernahme der Taliban gefährdete Afghaninnen und Afghanen lange gezögert. Erst am Montag begann schließlich ein Einsatz, um Menschen von Flughafen Kabul aus in Sicherheit zu bringen. Insbesondere für afghanische Ortskräfte oder Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft ist der Flughafen jedoch wegen Kontrollstellen der Taliban an den Zufahrten kaum noch erreichbar.
Führende Taliban-Vertreter haben sich zwar betont milde gegeben und unter anderem eine Amnestie für die einstigen Helfer der internationalen Truppen versprochen. Das Patenschafts-Netzwerk Afghanische Ortskräfte hat allerdings wenig Hoffnung für die Betroffenen in Kabul. „Die Menschen sind in Todesangst und hoffen auf eine Rettung, die ja nun immer schwieriger wird“, sagte der Koordinator des Netzwerks, Marcus Grotian.
Das Patenschaftsnetzwerk hatte in Kabul für bedrohte Ortskräfte aus Spendengeldern mehrere „sichere Häuser“ eingerichtet. „Die mussten wir auflösen, nachdem Kabul nun in die Hand der Taliban gefallen ist“, sagte Grotian. Nur zwei Stunden später „standen Taliban vor der Tür“, die dort nach Ortskräften gesucht hätten, die von ihnen als Verräter betrachtet würden. – BR