Neuburg – Kennen Sie die Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ von Heinrich Böll? Sie handelt von der exzentrischen alten Tante Milla, die so versessen auf Weihnachten ist, dass sie das ganze Jahr über Heilig Abend feiern möchte.
Mit Weihnachtsbaum, feinem Silbergeläut, Zuckergebäck und Kerzenschein und dies Tag für Tag. Was für sie selbst eine Art Therapie ist, treibt ihre Verwandten, welche mitspielen müssen, schließlich zur Verzweiflung. Die Kinder lassen sich durch Wachspuppen austauschen, und die Erwachsenen fliehen ins Kloster oder in den Wahnsinn. Nur Tante Milla bleibt unbeschadet zurück.
Wenn Sie mich fragen – die alte Dame übertreibt. Einmal im Jahr Weihnachten mit Tannenbaum und darum herum versammelten Verwandten ist ausreichend. Bisweilen sogar mehr als ausreichend, wenn man sich Szenen ins Gedächtnis ruft, die vermutlich jeder von uns kennt: Der Stress mit dem Weihnachtsbaum (man ist zu spät dran, alle sind schon ausverkauft, nur der Stachligste und Hässlichste blieb übrig) die Gans, die zu lange oder zu wenig lang im Ofen geschmort hat, die kleinen Kinder, die sich um die Geschenke streiten, die Teenager, welche ihre Geschenke gelangweilt zur Seite legen, eine unzufriedene Schwiegermutter, die stichelt, ein wortkarger Familienvater und gleichzeitig hohe Erwartungen an ein perfektes Fest im Lichterglanz.
Die nach dem Dessert einsetzenden politischen Diskussionen unter den Gästen – sofern nicht rechtzeitig unterbunden – offenbaren nicht nur den allbekannten Spaltpilz innerhalb unserer Gesellschaft, sondern können einem Atompilz gleichen. Schimpfwörter wie Schwachkopf dürften dort noch zum gemäßigten Repertoire zählen.
Und dennoch. Hätten wir Weihnachten nicht, wir würden etwas vermissen! Reibung erzeugt eben auch Wärme, und möglich, dass ein Weihnachtsfest ganz ohne Verwandtschaft friedlicher verlaufen mag, es hat dann aber auch viel weniger Unterhaltungswert. Wer kennt sie nicht all die köstlichen Komödien zu diesem Thema von Loriot bis zu dem Film„Eine schöne Bescherung“.
Und es gibt sie ja auch, die innigen Momente, die Freude am Zusammensein. War früher mehr Lametta? Ganz bestimmt, doch der empfundene Weihnachtsglanz hängt vermutlich auch vom eigenen Lebensalter ab. Kinderaugen leuchten immer noch unterm Weihnachtsbaum, und manch einer der Erwachsenen schafft es auch, dem traditionellen Familienfest etwas von diesem alten Glanz der Kindheit abzugewinnen. So wie Tante Milla. – Christiane Maria Borrmann