Krasser Anstieg: KKH ermittelt in 768 neuen VerdachtsfällenHannover, 14.06.2021 – Die Prüfgruppe Abrechnungsmanipulation der KKH Kaufmännische Krankenkasse hat im vergangenen Jahr so viele Hinweise erhalten wie lange nicht. 768 Verdachtsfälle wurden bundesweit gemeldet und damit 61 Prozent mehr als 2019. Trauriger Spitzenreiter im Betrugs-Ranking: Pflegedienste mit 391 Fällen, gefolgt von Pflegeheimen mit 194 Fällen. Damit entfallen drei Viertel aller Hinweise in 2020 auf Pflegeleistungen.
„Der Pflegebereich ist besonders anfällig für Straftaten“, sagt KKH-Chefermittlerin Dina Michels. „Hier wirken sich die jährlichen Abrechnungsprüfungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung aus. Aufgrund der Fallgestaltungen habe ich aber auch den Eindruck, dass in diesem Leistungsbereich mehr Menschen mit hoher krimineller Energie unterwegs sind.“ Ein Beispiel: Ein Pflegedienst rechnet das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ab, obwohl dies täglich von Angehörigen erledigt wird. Die Leistungsnachweise für die Abrechnung mit den Krankenkassen werden von den Pflegebedürftigen oder deren Angehörigen dennoch unterschrieben. Als Gegenleistung lässt der Pflegedienst die Wohnungen der Pflegebedürftigen von eigenem Personal reinigen.
Betrugsdelikte sind keine Bagatelldelikte
Gleich ob von Pflegediensten, Ärzten, Apothekern, Physiotherapeuten oder Sanitätshäusern eingefädelt: Hinter jedem Fall von Abrechnungsbetrug steht der Versuch, den eigenen Gewinn illegal zu maximieren. „Betrugsdelikte im Gesundheitswesen sind alles andere als Bagatelldelikte“, urteilt Dina Michels. „Wer in diesem Bereich rechtswidrig handelt, bereichert sich an Geldern, die Versicherten für die Behandlung von Krankheiten und die Vorsorge zustehen. Außerdem geraten mit jeder aufgedeckten Tat ehrliche Leistungserbringer des jeweiligen Berufsstandes in Verruf.“ Dabei sind es stets nur einige wenige, die kriminell agieren. Da werden Arzneimittel gepanscht, Höchstsätze für unqualifiziertes Personal abgerechnet, Rezepte für Physio- und Ergotherapie gefälscht oder Leistungen abgerechnet, die nur auf dem Papier existieren. Der Kranken- und Pflegeversicherung der KKH ist durch bewusste Falschabrechnungen allein in 2020 ein Schaden in Höhe von einer halben Million Euro entstanden. Die höchsten Schadenssummen erschwindelten Apotheker, gefolgt von ambulanten Pflegediensten. In 23 Fällen erstattete die KKH Strafanzeige.
Betrüger dingfest machen: Jeder kann helfen!
Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamts stiegen die Gesundheitsausgaben allein im Jahr 2020 auf etwa 425 Milliarden Euro. Diese Summe setzt bei einzelnen Leistungserbringern ein hohes Maß an Energie frei, gesetzwidrig Gelder einzustreichen. Auf die Schliche kommen Krankenkassen bewussten Falschabrechnungen durch Hinweise. Die meisten gingen bei der KKH im vergangenen Jahr in Nordrhein-Westfalen ein (179), gefolgt von Bayern (121) und Sachsen-Anhalt (101). Zu den Hinweisgebern zählen neben dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Polizei und Staatsanwaltschaft, andere Krankenkassen, Medien sowie Versicherte. „Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Die Krankenkassen sind daher bei der Prävention und Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen auf Unterstützung angewiesen“, appelliert Juristin Michels. „Jeder Hinweis ist wichtig und hilft, weitere Schäden zu verhindern.“ Wer meint, in seinem Umfeld könne ein Fall von Fehlverhalten vorliegen, kann dies der KKH melden: entweder per Mail an betrugsverdacht@kkh.de oder per Kommunikation über ein elektronisches Hinweisgebersystem – wahlweise namentlich oder unter Wahrung der Anonymität. Dieses BKMS-System finden Sie unter www.kkh.de/abrechnungsbetrug.
Deutschlandweites Ermittlernetz erforderlich
In elf Bundesländern gehen inzwischen Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften sowie besonders ausgebildete Kriminalbeamte Fehlverhalten im Gesundheitswesen intensiv nach. „Speziell geschulte Ermittler und IT-Experten für die Verfolgung und Aufklärung bewusster Falschabrechnungen sollten in allen Bundesländern flächendeckend tätig sein“, fordert Dina Michels. „Denn es ist mitunter traurige Realität, dass begründete Ermittlungsverfahren mangels Spezialwissen eingestellt werden. Das öffnet Betrügern Tür und Tor. Ein engmaschiges professionelles Ermittlungsnetz ist die entscheidende Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf gegen kriminelle Machenschaften.“
Die TOP DREI Leistungsbereiche der Neufälle 2020 (Fallzahlen in Klammern):
Ambulante Pflege (391)
Pflegeheime (194)
Krankengymnasten/Physiotherapeuten (64)
Die TOP DREI Leistungsbereiche nach Schadenssumme in 2020 (Betrag gerundet):
Arzneimittel: 160.320 €
Ambulante Pflege: 128.120 €
Orthopädische Hilfsmittel/Sanitätshäuser: 101.230 €
Die TOP DREI Bundesländer der 768 Hinweise in 2020 (Fallzahlen in Klammern):
Nordrhein-Westfalen (179)
Bayern (121)
Sachsen-Anhalt (101)
DREI Beispiele für aufgedeckte, kassenübergreifende Betrugsfälle in 2020:
Fall 1: Ein Physiotherapeut lässt Leistungen durch unzureichend qualifizierte Therapeuten erbringen. Für Krankengymnastik nach Bobath oder am Gerät, manuelle Lymphdrainage oder auch manuelle Therapie ist eine zertifizierte Zusatzausbildung erforderlich. Physiotherapeuten verzichten hierauf nicht selten. Fehlt die nötige Qualifikation, sind solche Anwendungen nicht abrechnungsfähig. Die KKH hat als federführend tätige Krankenkasse Strafanzeige erstattet. Der Schaden für alle Krankenkassen dürfte im höheren fünfstelligen Bereich liegen.
Fall 2: Ein Krankentransportunternehmen hat im großen Stil Corona-bedingte Desinfektionspauschalen abgerechnet. Desinfektionen in diesem Umfang sind jedoch nie erfolgt. Es wurde Strafanzeige wegen Betruges erstattet. Es konnte bereits ein Vergleich über einen siebenstelligen Schadensbetrag für alle Krankenkassen geschlossen werden. (Federführung: AOK Baden-Württemberg)
Fall 3: Ein Sanitätshaus arbeitet unzulässig mit Arztpraxen zusammen, lässt verordnete Hilfsmittel direkt in Arztpraxen an Patienten abgeben. Ein Ermittlungsverfahren läuft. Aktuell laufen Rückzahlungsverhandlungen der betrogenen Krankenkassen mit dem Sanitätshaus und den Ärzten. Schaden allein bei der KKH: rund 100.000 Euro. (Federführung: Barmer)