München – Russland fährt die Gaslieferungen nach Deutschland noch einmal drastisch zurück. Der Gas-Preis schnellte nach der Ankündigung von Gazprom nach oben. Bundeswirtschaftsminister Habeck wirft Kremlchef Putin ein „perfides Spiel“ vor. Russland dreht den Gashahn noch weiter zu: Der Staatskonzern Gazprom teilte mit, dass von Mittwoch an durch die Pipeline Nord Stream 1 nur noch 20 Prozent der möglichen Menge fließen. Jetzt sind es noch 40 Prozent. Grund sei die Reparatur einer weiteren Turbine, hieß es.Mehr zu: Nord Stream 1: Gazprom reduziert Gas-Lieferungen drastisch
Kremlchef Wladimir Putin hatte in der vergangenen Woche schon angedroht, dass es zu einer weiteren Drosselung der Gaslieferungen über Nord Stream 1 kommen könnte, wenn eine in Kanada reparierte Turbine nicht rechtzeitig wieder zur Verfügung stehe. Außerdem werde die Reparatur eines „weiteren Aggregats“ nötig.
„Keine technischen Gründe“ für Gas-Kürzungen
„Es gibt keine technischen Gründe für die Lieferkürzungen. Die Turbine steht zur Auslieferung an Russland bereit“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck nach der Mitteilung von Gazprom. „Russland bricht Verträge und gibt anderen die Schuld.“ Die Ausfuhrdokumente von Siemens Energy lägen vollständig vor, aber Russland verweigere die Ausstellung der Einfuhrdokumente.
Auch das Unternehmen selbst erklärte am Abend in München, der Transport der Turbine könne jederzeit starten. „Was allerdings fehlt, sind erforderliche Zolldokumente für den Import nach Russland.“ Diese Informationen könnten nur vom Kunden bereitgestellt werden, heißt es im Statement von Siemens Energy.
Erst am Donnerstag waren die Gaslieferungen über die derzeit wichtigste Verbindung nach Deutschland für russisches Erdgas nach einer zehntägigen Routinewartung wieder aufgenommen worden. Schon im Juni hatte Gazprom die Lieferungen über die Pipeline auf 40 Prozent der Maximalkapazität gedrosselt und auf jene zur Reparatur nach Kanada verschickte Turbine verwiesen.
Habeck: Putin will Unterstützung für Ukraine schwächen
Habeck konstatierte: „Putin spielt ein perfides Spiel“. Seine Strategie sei durchsichtig. „Er versucht, die große Unterstützung für die Ukraine zu schwächen und einen Keil in unsere Gesellschaft zu treiben. Dafür schürt er Unsicherheit und treibt die Preise. Dem setzen wir Geschlossenheit und konzentriertes Handeln entgegen. Wir treffen Vorsorge, damit wir durch den Winter kommen.“
Die Bundesregierung setze dafür seit Monaten einen Vorsorgeplan um, der in der vergangenen Woche noch mal um ein Energiesicherungspaket ergänzt worden sei. „Vom Bau einer LNG-Infrastruktur in extrem hohen Tempo über die Befüllung der Speicher bis zur Senkung des Verbrauchs – daran arbeiten wir mit ganzer Kraft. Es ist klar: Der Gasverbrauch muss runter, die Speicher müssen voll werden. Die Bundesregierung tut dafür, was immer nötig ist.“
Selenskyj: Russland beginnt „Gas-Krieg“ mit Europa
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht in der weiteren Drosselung russischer Gaslieferungen nach Europa eine Form von Moskaus „Terror“ gegen den Westen. „Und dies ist ein offener Gas-Krieg, den Russland entfacht gegen das vereinte Europa“, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videobotschaft. Russland mache es Europa damit absichtlich schwer, sich auf den Winter vorzubereiten.
Das Land zeige damit einmal mehr, dass es sich nicht für das Schicksal der Menschen interessiere. Das Land lasse die Menschen durch die Blockade ukrainischer Getreideausfuhren hungern sowie unter Kälte, Armut und Besatzung zu leiden.
EU-Kommission sieht sich bestätigt
Ein Sprecher der EU-Kommission sagte in Brüssel mit Blick auf die Ankündigung aus Moskau, genau diese Art von Szenario habe Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und das Kollegium dazu veranlasst, ein Vorschlag zur Solidarität beim Gassparen vorzulegen. Die Entwicklung bestätige die eigene Analyse und man hoffe, dass der Rat der Mitgliedstaaten an diesem Dienstag eine angemessene Antwort beschließen werde.
Der Sprecher spielte damit darauf an, dass die für Energie zuständigen Minister der EU-Staaten an diesem Dienstag über einen möglichen vollständigen Lieferstopp von Gas aus Russland beraten wollen. Im Zentrum des Sondertreffens in Brüssel wird dabei die Vorbereitung auf einen solchen Ernstfall stehen. Die EU-Kommission hatte dazu vergangene Woche einen Notfallplan vorgelegt, der für den Fall eines Gasnotstands verpflichtende Einsparziele möglich machen soll. Zunächst sollen die EU-Staaten zwischen August 2022 und März 2023 jedoch freiwillig deutlich weniger Gas verbrauchen.
Gas-Preis steigt nach russischer Ankündigung
Der europäische Börsenhandel reagierte auf die Ankündigung von niedrigeren Liefermengen aus Russland sofort. Der Erdgas-Preis ging nach oben. Der als richtungweisend geltende Terminkontrakt TTF an der Energiebörse in den Niederlanden wurde mit bis zu 175 Euro je Megawattstunde gehandelt. Das ist ein Plus von 7,7 Prozent im Vergleich zu Freitag. Der Energieexperte Florian Starck vom Preisportal Check24 rechnet mit weiter steigenden Gaspreisen an den Börsen. Denn die Nachfrage nach Gas sei relativ konstant, und nun müsse für den Ausfall von russischem Gas Ersatz besorgt werden.
Netzagentur warnt vor den Folgen
Kurzfristig ist der Gasbedarf in Deutschland gedeckt. Längerfristig könnte es eng werden. Der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller warnte erst kürzlich: „Auch bei einem Niveau von 40 Prozent müssen wir erhebliche Anstrengungen unternehmen, um gut über den ersten Winter zu kommen.“ Kommen nur noch 20 Prozent der Maximalkapazität aus der Pipeline, wird die Ersatzbeschaffung entsprechend dringlicher. Vor allem das Auffüllen der Gasspeicher könnte ein Problem werden.
Die Bundesregierung hat einen Speicherfüllstand von mindestens 95 Prozent zum 1. November als Ziel ausgegeben. Das sei unrealistisch, selbst wenn durch die Pipeline 40 Prozent der Lieferkapazität fließe, sagte Müller am Montag bei einem Krisengipfel der baden-württembergischen Landesregierung. Im besten Fall seien maximal 80 bis 85 Prozent möglich. Bleibt es bei der Halbierung der Gaslieferung, dürfte auch dieses Ziel nur schwer zu erreichen sein.
Im Winter könnte Gas fehlen
Der Energieexperte beim Verband der Chemischen Industrie, Jörg Rothermel, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Die weitere Reduzierung der Gaslieferungen auf 20 Prozent erhöht das Risiko, dass uns im Winter Gas fehlen wird, weil wir große Schwierigkeiten haben werden, unsere Speicher zu füllen.“ Umso wichtiger sei es, „dass wir schnellstmöglich die Maßnahmen umsetzen, die uns unabhängiger von russischen Gaslieferungen machen. Das sind schwimmende LNG-Terminals, der Ersatz der Gasverstromung durch Kohle sowie das geplante Auktionsmodell.“ BR, mit Material der Agentur dpa