Fr. Mrz 29th, 2024

Eichstätt (upd) – Eine wissenschaftliche Einordnung zu Ursachen und Folgen des Kriegs in der Ukraine aus Sicht von Politikwissenschaft und Geschichte – das ist das Ziel einer virtuellen Aktuellen Stunde der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) gewesen, die sich explizit auch an die breite Öffentlichkeit gerichtet hat. „Wir sind alle jäh aus der Illusion gerissen worden, nur von Freunden umgeben zu sein. Ein autokratisch regiertes Land ignoriert die internationale Ordnung und bricht alle Regeln. Wir haben als Universität unmittelbar Position bezogen, Studierende haben eine große Hilfs- und Spendenaktion gestartet. Doch neben der großen humanitären Unterstützung ist gerade die wissenschaftliche Bearbeitung des Krieges eine Aufgabe von Universität“, betonte Prof. Dr. Klaus Stüwe, Vizepräsident für Internationales und Profilentwicklung zum Auftakt.

Prof. Dr. Falk Ostermann, der aktuell den Lehrstuhl für Internationale Beziehungen an der KU vertritt, berichtete als Experte für Außenpolitik. Er beschäftigt sich insbesondere mit der Außen- und Sicherheitspolitik Europas sowie der NATO. Sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Andreas Ludwig forscht zu Außen-, Sicherheits- und EU-Politik insbesondere bezogen auf Deutschland, Österreich und das Vereinigte Königreich. Als langjähriger Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropastudien wiederum äußerte sich Prof. Dr. Leonid Luks mit seiner Expertise zu Geschichte und Politik der Staaten Osteuropas.

In seinem Eingangsstatement schilderte Luks die demokratische Revolution und die Auflösung der UdSSR als Hauptmotive für das Handeln von Russlands Präsident Wladimir Putin. Dieser versuche seit seiner Wahl, die Folgen dieser Ereignisse rückgängig zu machen. „Putin selbst bezeichnete den Zerfall der UdSSR einmal als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, so Luks. Noch Mitte der 90er-Jahre habe die russische Zivilgesellschaft einen beachtlichen Einfluss gehabt. Die entsprechenden Strukturen habe Putin kontinuierlich ausgehöhlt. Profitiert habe er dabei von einer kurz aufeinander folgenden Erosion des kommunistischen und des demokratischen Systems in Russland. Die als Trauma empfundene Auflösung der Sowjetunion und die Folgen der anschließenden wirtschaftlichen Schocktherapie hätte den Lebensstandard zunächst halbiert. Dies habe erheblich zur Diskreditierung der demokratischen Idee in Russland beigetragen. „In dieses weltanschauliche Vakuum stieß Putin mit einem Law-and-Order-Prinzip und einer bescheidenen Anhebung des Lebensstandards für die Bevölkerung“, so Luks. Gleichzeitig hätten sich in diesem System die herrschenden Gruppierungen der gesellschaftlichen Kontrolle entzogen. Der Ukraine-Krieg stelle einen Beweis dafür dar. „Trotz ihrer Erfolge empfinden sich die Verteidiger des vorherrschenden Systems keineswegs als omnipotente Sieger. Das beherrschende Motiv ihres Handelns scheint die Angst um das Erreichte zu sein.“ Für die Putin-Equipe habe der demokratische Umbruch in der benachbarten Ukraine deshalb einen Super-GAU dargestellt. Nicht die Panzer der NATO, sondern die demokratischen Ideen, die sich in der Ukraine durchgesetzt hätten, würden im Kreml panische Ängste vor einem Übergreifen auf Russland hervorrufen.

Sowohl der Historiker Luks als auch der Politikwissenschaftler Falk Ostermann betonten, dass Putin bei seinem Angriff auf die Ukraine von falschen Prämissen ausgegangen sei. Er habe NATO und EU für nicht handlungsfähig gehalten. „Doch im Gegenteil ist eine neue Gemeinsamkeit von Europäischer Union und NATO eingetreten. Es wird zwar nicht in die Kampfhandlungen eingegriffen, jedoch hat man sich neu auf die Verteidigung des Bündnisses besonnen“, schilderte Ostermann. Aufgrund dieser Strategie bestehe derzeit nicht die Gefahr eines neuen Weltkrieges, jedoch stehe eine fundamentale Veränderung politischer Verhältnisse mit viel politischer Instabilität bevor. Ostermann unterstrich: „Putin verstößt derzeit gegen so ziemlich alle Verträge, die Russland unterschrieben hat – etwa auch das Schutzversprechen gegenüber der Ukraine, die dafür auf ihren Atomwaffenstatus verzichtet hat.“ Russland begehe klare Völkerrechtsverstöße. Das Ziel sei nicht weniger als die Einhegung demokratischer Staaten als eigenständige politische Akteure und die Rückkehr zu einer Weltordnung, in der Großmächte über andere Staaten bestimmten.

Dr. Andreas Ludwig erinnerte daran, dass sich in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik binnen weniger Tage ein grundlegender Paradigmenwechsel vollzogen habe durch die geplante Auf- und Ausrüstung der Bundeswehr, Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet oder scharfe Wirtschaftssanktionen. „Viele hätten das der häufig zu Recht als zögerlich wahrgenommenen Bundesrepublik nicht zugetraut.“ Selbst Österreich und die Schweiz planten, ihre neutrale Stellung wehrhafter zu machen, in Schweden und Finnland werde der Beitritt zur NATO diskutiert. Das werde auch für die europäische Ordnung Folgen haben, bildeten doch die neutralen Staaten selbst während des Kalten Krieges stets eine Brücke zwischen den Blöcken. Zudem sei die Integration Russlands bislang ein Hauptanliegen von Europarat und OSZE gewesen, die durch den Krieg einen schweren Schlag erlitten hätten. „Bei aller berechtigen Entrüstung über diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg sollten nicht auch wir das Kind mit dem Bade ausschütten. Man muss besonders der russischen Zivilgesellschaft die Türe offenhalten, damit die Zeiten in Europa wieder heller werden“, so Ludwig.

Anknüpfend daran schilderte Professor Luks in der anschließenden Online-Diskussion mit dem Publikum, dass die pro-europäischen Russen zwar bezwungen worden, aber nicht verschwunden seien. Im Hinblick auf die Orientierung nach Westen sei Russland schon seit Generationen ein gespaltenes Land gewesen, bereits Peter der Große habe den Westen bewundert. Auch in Deutschland sei diese Auseinandersetzung darüber erst mit der Westbindung nach 1945 beendet worden. „Vielleicht könnte dieser Krieg auch eine Zäsur zugunsten einer europäischen Ausrichtung Russlands sein. Putin ist nicht Russland, es gibt noch ein anderes Gesicht. Vielleicht kann es sich sogar in absehbarer Zeit durchsetzen“, so Luks.

Solange Russland jedoch, ergänzte Falk Ostermann, an seinen Maximalforderungen bezüglich der Ukraine festhalte, seien die Chancen für eine kurzfristige Deeskalation gering. „Es ist nicht an uns zu entscheiden, ob die Ukraine – wie gefordert – neutral werden soll. Ihr steht wie jedem anderen Staat der Welt zu, souverän über seine eigene innen- und außenpolitische Orientierung zu entscheiden. So steht es in der UN-Charta!“

Im Hinblick auf die Rollenverteilung in der Sicherheitspolitik zwischen Europa und den USA betonte der Politikwissenschaftler Dr. Andreas Ludwig, dass es nicht im Interesse der Europäischen Union sein könne, sich aus dem Schulterschluss mit den Vereinigten Staaten in der NATO zu verabschieden. Zwar müsse Kontinentaleuropa einen stärkeren Beitrag leisten, eine Loslösung sei jedoch illusorisch. Speziell die Situation der Bundeswehr war Gegenstand einer Frage aus dem Publikum, die darauf abzielt, ob deren Aufrüstung erforderlich sei. Professor Ostermann beschrieb die geplanten Maßnahmen als ein Nachholen von materiellen Verteidigungsausgaben: „Die Bundeswehr ist nicht an dem Punkt, den sie minimal haben sollte. Insofern halte ich das aktuell für geboten.“ Über den Tag hinaus gelte es, so Ludwig, den internationalen Rückhalt zu bewahren, auch wenn die Folgen von Sanktionen nicht nur für Russland spürbar würden. „Sicherheit und Stabilität wird es dennoch nur geben, wenn man sich bewusstmacht, dass sie nur mit und nicht gegen Russland funktioniert – so schwierig dies auch aktuell erscheinen mag.“ – Constantin Schulte Strathaus, KU Eichstätt-Ingolstadt, Fotos: upd

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